Dafina aus dem Slowcooker

Dafina aus dem Slowcooker

Merlino verzog den Mund. Oder besser gesagt: Er setzte dazu an. Der Wattetupfer, den ihm der junge Mann in den Rachen führte, beschränkte Merlinos Mundbeweglichkeit.

Wir saßen einander gegenüber. Zwei Stühle, sechs Meter auseinander. Zwischen uns bewegten sich junge Männer (Bufdis?) In Schutzkleidung: Maske, Visier, Schutzanzug in den schönsten Krankenhausfarben von Hellgrün bis Hellblau.

Wir saßen in den kargen Räumen des SARS-CoV2-Testzentrums in Schöneberg. Nicht ohne Grund. Testen tat not. Infektion im mittleren Nahbereich. Wir wollten ja weiter mit gutem Gewissen unter Menschen gehen.

Und so nahmen wir den echten PCR-Rest. Antigen-Schnelltests waren so Frühjahr. Ich absolvierte meinen zweiten PCR-Test des Monats. Ich hatte in den letzten drei Wochen mehr gesicherte Sars-CoV2-Nahbegegnungen als in den 16 Monaten davor.

Nicht nur mir ging es so. Das Testzentrum war geschlossen gewesen und wieder zum Leben erwacht. Ich hätte nicht gedacht, Merlino hier noch einmal zu treffen.

Wir hatten uns vor die Tür begeben. Merlino schilderte mit Hilfe einer Grimassenshow die Abnahme des PCR-Tests.

Ich summte vor mich: „A kiss is just a kiss. a sigh is just a sigh. the fundamental things apply.“

Merlino: „A kiss? Un baccio? Sei pazzo? Spinnst Du? Nach dieser Wattestäbchen-Gewalttat“ Merlino schaute mich an, als hätte ich vorgeschlagen, Ragú alle Bolognese mit Spaghetti zu kochen. Er hielt mich für nicht zurechnungsfähig.

Casablanca“, sagte ich. „Der legendäre Film von 1942. Und eine Hafenstadt in Marokko. Ich bin gedanklich in Marokko – kulinarischer Weltreise.“

Mellah (jüdisches Viertel) in Casablanca. Beginn 20. Jahrhundert.

Zwei Weltreisen

Ich verfolge dieses Jahr zwei kulinarische Weltreisen. Da sind zum einen die „100 berühmtesten Rezepte der Welt“. Ein Kochbuch von 1971, das ich versuche durchzukochen. Zum anderen ist da der Blogevent „Kulinarische Weltreise“, veranstaltet von Volkermampft. Diese gastiert im November im Marokko.

Blogger Aktion "Die kulinarische Weltreise" von @volkermampft hält in Marokko - die besten Rezepte und Gerichte der marokkanischen Küche

Und ich habe ein Problem. Das Kochbuch schlägt nur ein passendes Rezept vor: Couscous. Das passt nach Marokko, wirft aber Probleme auf. Die „echte“ traditionelle Version des Couscous ist nur für Wahnsinnige. Sie setzt voraus, dass der Koch Couscous über Stunden mit Spezialausrüstung streichelt, durchmischt und sanft immer wieder mit Wasser beträufelt. So opferbereit bin ich nicht.

Das unechte Couscous ist ein Halbfertiggericht, das innerhalb von fünf Minuten mit Hilfe von kochend Wasser herstellbar ist. Das ist mir zu wenig experimentell.

„Kuskus“ in die „100 berühmtesten Rezepte der Welt.“

Ich versuche, mich Marokko gedanklich zu nähern. Der Film Casablanca brachte mich dem Land nicht näher. Denn Marokko, oder gar Marokkaner*innen, kommen im ganzen Film nicht vor.

Ein dunkler Hinterhof

Also schloß ich die Auge. Ich schaltete das Radio aus, sagte mir „Marokko, Essen“ und wartete auf Bilder vor meinem inneren Auge. Nach kurzer Zeit sah ich. Ich sah einen orientalischen Hinterhof, emsige Kellner, flackerndes Licht und den Duft von Gewürzen. „Dr. Shakshuka!“ Dachte ich. „Jaffa“, südlich von Tel Aviv. „Shakshuka!“

Merlino staunte mich an „Sei pazzo? Spinnst Du. Hast du gesehen eine Mappa.“ Er fuchtelte in der Luft herum. „Da!“ – er zielte knapp rechts neben meinen Bauch – „ist Marokko. Und dort“ – sein Finger sauste an meiner linken Wange vorbei – „ist Jaffa. Das sind mehr als 5000 Kilometer Distanz.“

„Ja aber Sepharden“ wand ich ein. Dr. Shakshuka stammt von Auswanderern aus Nordafrika ab. Shakshuka ist ursprünglich ein Gericht der nordafrikanischen Juden, das mit diesen nach Israel wanderte. Vielleicht habe ich Glück, er kommt aus Marokko und ich habe mein schon erfolgreich getestetes Gericht.

Dr. Shakshuka, bürgerlich Bino Gabso, wurde 1952 in Jaffa geboren. Seine Eltern stammen aus Libyen. Das ist weiter als 2000 Kilometer von Marokko entfernt.

הודים מרוקאים‎ Yehudim Maroka’im تاريخ اليهود في المغرب

Ich folgte der Spur der Sephardim. Bis zu 300.000 Juden lebten in Marokko. Sie bildeten wie in ganz Nordafrika eine bedeutende Bevölkerungs-Minderheit. Mit der Gründung Israels, der Unabhängigkeit der arabischen Staaten und den Spannungen zwischen Israel und den arabischen Staaten, verließen fast alle das Land.

Inzwischen leben 500.000 Juden marokkanischer Abstammung in Israel, zwischen 25.000 und 50.000 je in Frankreich, den USA und Kanada. Diese brachten ihre Kultur (wie die Sängerin Neta Elkayam) und ihre Küche mit.

In Marokko trafen seit dem Jahr 1500 zwei jüdischen Gruppen aufeinander. „Schon ewig“ lebten in Marokko Juden, die nie Nordafrika verließen und nie nach Europa auswanderten – die Mizrachim. Um 1500 kamen dazu Sepharden aus Spanien und Portugal. Diese mussten die im Zuge der Inquisition und des Alhambra-Edikts Spanien und Portugal verlassen. Sie flüchteten nach Nordafrika, brachten ihre Kultur mit.

Im 20. Jahrhundert verließen die Sepharden und Mizrachim Nordafrika. Nach mindestens 500 Jahren dort zogen sie nach Israel, Frankreich und Nordamerika. In Israel selbst existieren heftige Spannungen zwischen Sepharden (mit spanischen/nordafrikanischen Vorfahren) und Aschkenasi (mit Mittel-/osteuropäischen Vorfahren).

Aber wenn Aschkenasi und Sepharden etwas nicht gebrauchen können, dann Deutsche, die zu dem Thema eine Meinung loslassen müssen. Ich bleibe beim Kochen.

Sabbateintopf

Der Sabbat ist im Judentum ein arbeitsfreier Tag. Zahlreiche Regeln und Gesetze legen fest, was zwischen Beginn des Sabbats (Freitag bei Sonnenuntergang) und dessen Ende (Samstag bei Sonnenuntergang) erlaubt und verboten ist,

Verboten ist das Anzünden von Feuer. Das erzeugt eine Problemlage beim Zubereiten warmer Mahlzeiten am Samstagmittag. Die Antwort darauf lautet „Cholent“ zum Beispiel oder „Schalent.“. Ein Schmorgericht, das Freitag Abend in den warmen Ofen des Bäckers kommt und Samstag mittag fertig zubereitet aus dem immer noch warmen Ofens genommen wird.

„Low and slow. Ich sehe.“ – warf Merlino ein. Genau und dementsprechend aromatisch.

Wie schon Heinrich Heine wusste:

»Liebster! Rauchen ist verboten,
Weil es heute Sabbath ist.
»Dafür aber heute Mittag
Soll dir dampfen, zum Ersatz,
Ein Gericht, das wahrhaft göttlich –
Heute sollst du Schalet essen!«
Schalet, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium!
Also klänge Schillers Hochlied,
Hätt er Schalet je gekostet.
Schalet ist die Himmelspeise,
Die der liebe Herrgott selber
Einst den Moses kochen lehrte

Ähnlich gut wie das Gefühl nach dem negativen PCR-Test. Merlino stimmte zu. „Du machst jetzt Cholent?“

Fast, Cholent gibt es auch in sephardischen Varianten; sogar in einer marokkanischen Varianten – der Dafina. Oder der skhina oder der sakhina, tafna, pkaïla. Viele Namen für dasselbe Gericht.

Dafina (Skhina, Tafna)

Die verschiedenen Namen scheinen mit den verschiedenen Gruppen marokkanischer Juden zusammenzuhängen, die im Laufe der Jahrhunderte aufeinandertrafen. Inzwischen scheint der Name aber keinen Einfluss mehr auf das Gericht zu haben. Jede Familie und jeder Imbiss hat seine eigene Variante, der gegebene Name sagt nichts darüber aus, welchen Inhalt der Eintopf hat.

Der marokkanische Dafina unterscheidet sich von den anderen Cholent-Varianten durch die Verwendung von Rind statt Huhn, den Einsatz von Kichererbsen, Süßkartoffeln, Datteln und Gewürzen. Orientalisch halt. In der Dafina werden ganze Eier in der Schale mitgekocht, die huevos haminados.

Dafina mit huevos haminados

Eine Besonderheit der spanisch-marokkanischen Variante ist die Nutzung von Beuteln für verschiedene Bestandteile. Traditionell im Seihtuch, heute oft in speziellen Kochbeuteln, werden einzelne Bestandteile im selben Topf aber getrennt gekocht und dann getrennt serviert,

„Das mache ich auch“, dachte ich noch. Ich besorgte Datteln, Knoblauch, Suppenfleisch (mit Knochen) und Suppenfleisch (ohne Knochen) beim türkischen Supermarkt, brachte beim Bioladen Süßkartoffeln, Kartoffeln und Zwiebeln mit.

Zum Rätseln brachten mich die „Wheat berries“, die verschiedene englischsprachige Rezepte vorsahen. Die Übersetzung „Weizenbeeren“ brachte mich nicht weiter. Waren Weizenkörner gemeint, war es Ebly, Bulgur, Weizenschrot? Letztendlich sah ich beim Supermarkt „Istanbul“ geschälten Weizen im Regal und entschied mich für diesen. Dieser kam mangels Kochbeuteln oder Seihtuch in ein weißes Geschirrhandtuch und bekam eine Separatbehandlung.

Und es begann

Zutaten

für den 5,7-Liter slow Cooker

Zutaten für Dafina

2 Kilo Suppenfleisch (mit und ohne Knochen)
1 große Süßkartoffel
2 kleine Kartoffeln
2 große Zwiebeln
1 Knoblauchknolle
1 Cup Weizen geschält im Küchentuch
4 kleine Eier
1 große Dose Kichererbsen
5 Datteln entsteint

Ras-al-Hanouf (Piment, Cumin, Curry, Salz, Pfeffer), Zucker, Kurkuma, Zimt, Paprikapulver,

Zubereitung

Gemüse in rustikale Stücke schneiden.

Kichererbsen auf dem Boden des slow Cookers verteilen. Darüber Zwiebeln.

Süßkartffelscheiben, Kartoffelscheiben und Eier (ungekocht, in der Schale) – am Rand des slow Cookers verteilen.

Weizen im Küchentuch einbinden. Genug Platz lassen, damit dieser die Flüssigkeit aufsaugen kann und Platz zum Ausdehnen hat,

Knoblauchknolle (in ganz), Datteln, Fleisch und Küchentuch in die Mitte. Großzügig würzen.

Im Crock Pot 4 Stunden auf High, danach 12 Stunden auf Low.

Nach 16 Stunden im Slowcooker

Alles auseinandernehmen. Knochen und Knoblauchzehe entfernen. Fett von der Sauce trennen und für später aufbewahren. Eier schälen.

Weizen kritisch betrachten. Ihn doch nicht servieren, sondern als Kochstück für ein späteres Brot verwenden. Ihn durch instant-Couscous ergänzen.

Voilá. Ein Gericht für die Götter.

Dafina auf dem Teller angerichtet
Dafina, angerichtet

Merlino meldete sich auf Signal – „Wie waren die Weizenbeeren“ – ich antwortete „Schwerig.“ – „Kommst Du mit ins Kino? Es läuft noch French Dispatch.“ – „Weiß nicht. Ein paar Tage ohne Corona-Zwangstest wären auch ganz nett.“

Die anderen Reisenden

Auf jeden Fall aber geht lesen und in gutem Essen anderer Menschen schwelgen.

Britta von Backmaedchen 1967 mit Mandel Ghriba
Wilma von Pane-Bistecca mit Marokkanisches Fischgericht mit Couscous und Jogurt Sauce
Kathrina von Küchentraum & Purzelbaum mit Marokkanisches Fladenbrot aus der Pfanne
Sonja von fluffig & hart mit Marokkanisches Kofta Kebab
Sonja von fluffig & hart mit Baghrir – marokkanische Pfannkuchen
Simone von zimtkringel mit Marokkanisches Schmorhähnchen
Jill von Kleines Kuliversum mit Salzzitronen
Jill von Kleines Kuliversum mit Harira – marokkanische Suppe
Britta von Brittas Kochbuch mit Bunte Gemüsetajine mit Falafel
Petra aka Cascabel von Chili und Ciabatta mit Marokkanische Chorba mit Lamm, Gemüse und Safran
Petra aka Cascabel von Chili und Ciabatta mit Amlou – marokkanischer Mandel-Honig-Dip mit Arganöl
Tina von Küchenmomente mit Zitronen-Ghriba
Anja von GoOnTravel mit Marokkanische Linsensuppe – Harira (vegan)
Susanne von magentratzerl mit Harira
Edyta von mein-dolcevita mit Marokkanische Ingwer- Kekse
Petra aka Cascabel von Chili und Ciabatta mit Shrimps-Gemüse-Tagine mit Salzzitronen

18 thoughts on “Dafina aus dem Slowcooker

    1. Das Kubaneh-Brot klingt ja super spannend. Beim Weizen. Der war eher nicht reis-artig am Ende, sondern eine verklebte Masse, die es geschafft hat, gleichzeitig zu weich und zu hart zu sein. Ich vermute: falsches Tuch (zu dick), vor allem aber trotz aller Bemühungen nicht genug Platz im Tuch gelassen, damit der Weizen sich ausdehnen kann. Aber ich mach das hier ja auch um zu lernen.

      1. Ich fand den Weizen gar nicht so schlimm. Aber im Brot hat er sich auch gut gemacht und die ganze Würze hat sich dort angenehm ausgebreitet, ohne das Brot zu dominieren. Viel tragischer war, dass du das ganze Fett entsorgt hast, das auf der Brühe schwamm – damit hätten wir noch monatelang Rühreier aromatisieren können….

        LG
        poupou

  1. Das Fleisch sieht verdammt lecker und zart aus. Die Zubereitung in einem Slowcooker finde ich total interessant, kenn ich überhaupt nicht und ich frage mich wirklich wie die Eier schmecken.

  2. So ein umfassend interessanter Blogbeitrag! Von Dafina habe ich zuvor noch nie gehört, es klingt aber sehr gut und sieht nach einem perfekten Essen für kalte Wintertage aus!

  3. Mmmh, das klingt richtig lecker.
    Ich mag es wenn Gerichte langsam vor sich her köcheln. Die Küche duftet und am Ende wird man mit einem zarten Fleisch und tollen Aromen für die Geduld belohnt.

    Herzliche Grüße

    Susan

    1. Oh ja. Leider kann man den Geruch der Küche nicht mittransportieren. Aber der ist auf jeden Fall auch eine der schönen Seiten dieses Gerichts.

  4. Bei dir lernt man wirklich immer ne Menge! Das Rezept liest sich super, ich werde die „Weizenbeeren“ aber sicherheitshalber einfach mal direkt weglassen und unechtes Couscous stattdessen nehmen.
    Danke dir für diesen großartigen Beitrag!
    Liebe Grüße
    Tina

  5. Wow, das ist ja eine riesige Süßkartoffel, die Du da genommen hast. Die Geschichte drumherum ist mal wieder was zum Schmunzeln und Lernen. Da bin ich schon auf die nächste Geschichte gepannt.

  6. Oh, toll, du hast dich an Dafina gewagt, das steht schonlänger auf meiner Liste. Ich muss den Slowcooker wohl auch mal so lange laufen lassen….

  7. Wie immer habe ich deinen Beitrag mit viel Interesse, Spaß und dem wohligen Gefühl, viel Neues erfahren zu haben, gelesen. Und mit der Überzeugung, dass ich Dafina (minus Weizenperlen) ausprobieren muss.
    Liebe Grüße
    Simone

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